Wo Software entwickelt wird, da wird irgendwann auch der Status des Fortschritts berichtet. Und wir alle wissen, dass bei der Software-Entwicklung nicht immer alles perfekt läuft. Zeigt auch die gesamte Galerie weniger erfolgreicher Software-Projekte. Und jeder von uns kennt zahlreiche Situationen im eigenen Projekt, wo es auch nicht so ganz rund läuft. Der neugierige Blick auf Status-Berichte und das gespannte Lauschen in Status-Meetings lässt uns aber immer wieder erstaunt zurück. Also doch alles auf grün. Freie Fahrt, alle Ampeln erstrahlen in ihrem schönsten Grün.
Der ”Nach-oben-wird’s-immer-Grüner-Effekt”
Und wer jetzt das Vergnügen hat, Statusberichte entlang der „Berichts-Hierarchie“ oder „Management-Leiter“ zu verfolgen, wie dort weiterberichtet wird, der weiß was ich meine: Nach oben wird’s immer grüner!
Der Frust aus dem Team-Meeting auf der Ebene, wo wirklich entwickelt wird, steckt einem noch in den Knochen. Und schon kurze Zeit später reibt man sich verwundert die Augen, wie eine so kurzfristige und wundersame „Heilung“ des Projekts stattfinden konnte. Kaum dass man dem Status in einem anderen Kontext lauscht. Der Blick von weiter oben eröffnet anscheinend komplett neue und märchenhafte Perspektiven.
Es erscheint uns also ein bisschen wie im Wald: Der Blick in die Baumspitzen offenbart das saftigste Grün, während unten auf dem Boden der Realität alles etwas dunkler und rauer ist.

Es ist die traurige Wahrheit: Je weiter ein Statusbericht nach oben wandert, desto positiver und damit grüner wird er dargestellt. Auf der Team-Ebene werden noch offen Probleme diskutiert: „Die Deadline ist unrealistisch“, „Wir erreichen die Performance-Anforderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht“ oder „wir werden von Sprint zu Sprint langsamer wegen der schlechten Wartbarkeit“. Sobald diese Informationen jedoch in Richtung oberer Management-Ebenen wandern, verschwinden die Rückmeldungen im Sinne von „rot“ oder „gelb“ und machen Platz für beruhigende Formulierungen wie „Herausforderung im Blick“ oder „Plananpassung in Arbeit“ – natürlich immer eingerahmt in grünen Statusmeldungen.
Dass das nicht gut sein kann, liegt auf der Hand: Wenn die Realität verzerrt wird, kann das Management keine fundierten Entscheidungen treffen. Die operative Ebene fühlt sich missverstanden und bekommt nicht die notwendige Unterstützung. Statt ernsthaft an der Lösung eines Problems zu arbeiten, bleibt alles wie es ist – bis das Projekt in einer Katastrophe endet.

Warum wird’s nach oben immer Grüner?
Natürlich gibt es nicht den einen Grund. Eher zahlreiche. Deshalb berichte ich einige, die uns immer wieder über den Weg laufen.
- Fuzzy Ziele begünstigen fuzzy Berichte: Oft fängt das Problem viel früher an. Die Ziele sind auch schon nicht klar formuliert. Es ist nicht klar herausgearbeitet, wie die Aktivitäten zu den Zielen beitragen. Dahinter kann man sich natürlich viel leichter verstecken mit nebulösen Status-Berichten. Es ist auch viel leichter, einen grünen Status zu rechtfertigen, wenn die Ziele unklar sind. Bewusst oder unbewusst.
- Tatsächlicher Zustand nicht leicht erkennbar: In Software-Projekten ist es oft nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass das Projekt in die falsche Richtung läuft oder der Status hinter den Erwartungen zurückbleibt. Vieles ist indirekt und der Nebel ist teils schwer zu lichten. Mehr Details dazu in unserem Artikel zu Architektur-Reviews.
- Keine Zeit, Status-Berichte ernsthaft zu diskutieren: Status-Meetings sind oft viel zu kurz, um ernsthaft über die Inhalte zu reden und auch mal tiefer einzutauchen und tiefgehende Fragen zu stellen. Danach passiert es dann aber auch nicht.
- Hoffnung auf Besserung: Die Probleme sind oft zur Zeit des Status-Meetings noch nicht so groß, dass ihre Auswirkungen unübersehbar oder schon eingetreten wären. Als würden immer mal wieder Wunder geschehen, wird gehofft, dass im eigenen Projekt bitte eines eintrete. Auch wenn jeder weiß, dass es noch nie passiert ist.
- Unausgewogene Darstellung und grobe Vereinfachungen: Die Statusdarstellung fokussiert häufig auf einzelne ausgewählte Aspekte, die vielleicht sogar mit bester Intention ausgewählt wurden. Dadurch wird aber das Gesamtbild verzerrt. Außerdem werden oft sowohl quantitative als auch qualitative Fakten so stark vereinfacht, dass kein klares Bild mehr existiert. Z.B. auch durch maximale Aggregation auf 3-farbige Ampeln.
- Wohlbefinden nicht stören: Berichtende und Management-Ebene leben einfacher, so lange alles auf grün steht. Jeder geht aus dem Meeting und hat keine größeren Aufgaben, die noch zusätzlich auf die eh zu lange Liste kommen.
- Angst, andere zu demotivieren: Oft wird die Darstellung positiver gewählt, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass Personen bloßgestellt würden oder weil die Befürchtung besteht, dass die Realität zur Demotivation auf der operativen Ebene führen könnte.
- Angst vor negativen Konsequenzen: Mitarbeiter oder mittleres Management fürchten, dass sie bei der Weitergabe schlechter Nachrichten als inkompetent wahrgenommen werden oder unter verstärkter Beobachtung stehen.
- Nicht als Erster aus der Deckung kommen: Das Offenlegen von Problemen gilt oft als Schwäche. Wer will schon derjenige sein, der „Schwierigkeiten“ meldet? Und schon gar niemand will als erster Probleme melden. Eher dann, wenn andere schon die rote Flagge gehisst haben. „Wenn es dort Probleme gibt, können wir bei uns Qualität und Deadlines natürlich auch nicht halten“.
- Mehr Ebenen – mehr Filterung und Beschönigung: Je mehr Stationen ein Bericht durchläuft, desto mehr wird er verfälscht – ob bewusst oder unbewusst. Die Aggregation ist häufig oberflächlich und ohne tiefergehende Analyse der Querbeziehungen zwischen Einzelberichten. Die ganzen zuvor angeführten Gründe können auf jeder Ebene wieder zum Einsatz kommen, in beliebiger Kombination.
Immer Grün führt zu ernsthaften Konsequenzen
Die Auswirkungen sind oft gravierend. Hier einige Beispiele von Konsequenzen, die wir immer wieder in Projekten erleben müssen:
- Abrupter Wechsel von Grün auf Rot: Irgendwann ist es immer der Zeitpunkt, wo ein zu optimistisches Grün enttarnt wird. Meistens dann jäh. Und dann ist das Geschrei groß. Wie das passieren konnte. Wie nur so verantwortungslos berichtet werden konnte.
- Domino Effekt: Der abrupte Wechsel kommt häufig auch daher, dass nach der ersten Negativ-Meldung alle anderen nachziehen, die bis dato sich nicht aus der Deckung trauen wollten (siehe oben).
- Eingeschränkte Optionen für die Reparatur: Wenn Probleme zu spät kommuniziert werden, bleibt viel weniger Zeit, das Projekt noch in die richtige Richtung zu lenken. Außerdem sind die grundsätzlichen Möglichkeiten viel eingeschränkter.
- Fehlende Unterstützung: Das Management hat keine Chance, gezielt zu unterstützen, wenn es nicht weiß, wo es wirklich klemmt. Und wenn es dann irgendwann rauskommt, dann kommt es leicht zu Überreaktionen, die auch wenig hilfreich sind.
- Verlust von Vertrauen: Teams, die Probleme offen kommunizieren, aber keine Unterstützung erfahren, werden künftig schweigen. Das Vertrauen bricht zusammen. Manager, die immer wieder erfahren, dass Status-Berichte viel zu grün sind, werden diesen nicht mehr trauen.
- Gefahr für das Projekt oder Produkt als Ganzes: Letztlich landen Projekte häufig entweder auf dem Projekt-Friedhof oder sprengen jedes Budget und jeden Zeitrahmen.
Für ein überzeugendes Grün braucht‘s auch mal Gelb oder Rot
Es ist recht offensichtlich, dass das Problem nicht unlösbar ist. Die einzelnen Punkte sind eigentlich alle einfach. Es erfordert aber eine Verhaltensänderung bei zahlreichen Beteiligten in einem Projekt. Und deshalb ist es doch nicht so einfach. Aber es lohnt sich.
“
Theodore Roosevelt

- Kultur der Ehrlichkeit etablieren: Es muss klar sein, dass es besser ist, Probleme frühzeitig zu adressieren, als sie zu verschleiern. Das bedeutet, dass auch das Management seine Reaktionen reflektieren muss: Wird ein „roter“ Bericht bestraft, ist Transparenz sofort dahin.
- Richtige Ziele und Metriken verwenden: Es muss mehr Mühe in klare und gemeinsam verstandene Ziele fließen und dann in ein Reporting, das diese Ziele aufgreift und die Beiträge zu den Zielen bewertet.
- Direkte Kommunikation: Das Management sollte regelmäßig direkten Kontakt mit den Teams haben, um ein realistisches Bild der Lage zu bekommen. Kommunikation kann ganz bewusste Management-Ebenen überspringen und somit auch ernstes Interesse vermitteln.
- Zeit nehmen und ernsthaft diskutieren: Wenn nie der Raum und Rahmen ist, um ernsthaft zu diskutieren, dann bleibt auch das Reporting oberflächlich. Wenn aber geschickte und interessierte und auch bohrende Fragen gestellt werden, dann entsteht eine neue Tiefe und Ernsthaftigkeit.
- Horizontales Feedback: Es gibt so viele Leute im Projekt, die gut darin sind, Probleme zu erkennen und Feedback zu geben. Wenn sie ernsthaft danach gefragt werden und ihr Feedback dann auch ernstgenommen wird. Diese Quelle an Qualitätsverbesserung bleibt viel zu oft gänzlich ungenutzt. So kann die Situation verbessert werden und die einzelnen Bereiche können besser aufeinander abgestimmte Ergebnisse erzeugen. Die dann zurecht positiv berichtet werden können.
- Vertikales Feedback: Regelmäßiges Feedback zu Status-Berichten kann helfen, Verzerrungen zu reduzieren. Wenn ein Bericht „grün“ ist, aber offensichtlich Probleme existieren, sollte dies angesprochen werden.
- Training und Coaching: Oft fehlt es an der Kompetenz, schwierige Themen offen und professionell zu kommunizieren. Hier können Trainingsprogramme Abhilfe schaffen.
Fazit
Der „Nach-oben-wird’s-immer-grüner-Effekt“ ist DER Verstärker für viele andere Defizite in der Software-Entwicklung, weil er sie für lange Zeit unsichtbar und damit immer schlimmer macht. So können Probleme mit der Software-Architektur, mit dem Entwicklungsprozess oder mit der Produktdefinition übertüncht werden. Absichtlich oder oft auch unabsichtlich.

Damit führt ein Defizit in der Kommunikation zu Problemen in einer Größenordnung, die erst mal überraschen mag. Es ist aber möglich, diesem Phänomen entgegenzuwirken. Wenn wir bereit sind, uns mutig der Realität zu stellen, können wir viel erreichen. Dafür braucht es die Erkenntnis, wo das Problem liegt und den Mut und Willen, dagegen anzugehen. Jemand muss damit anfangen. Auf Dauer profitieren alle entlang der Hierarchieebenen. Zumindest innerhalb einer Organisation oder eines Projektteams sollte man die Kommunikation immer so offen und ehrlich wie möglich gestalten. Unehrlichkeit kommt irgendwann immer raus und der verursachte Schaden ist eigentlich immer größer als der kurzzeitige Nutzen. Also bitte aufhören, die Welt grün zu erzählen sondern lieber alle Energie reinstecken, dass sie wirklich grün wird.

Ihr habt es euch sicher schon gedacht: Das Problem ist natürlich nicht auf die IT-Welt und Software-Projekte beschränkt. Es tritt überall auf. Ein Aspekt der in anderen Bereichen vielleicht einfacher zu sein scheint ist die Feststellung des tatsächlichen Zustands, weil Software ja so unsichtbar und indirekt ist. Bei einem Bauwerk sieht man zwar viel leichter, ob schon etwas errichtet wurde und ganz gut aussieht. Aber erinnert euch an das Drama um den Berliner Flughafen BER: Dort sah schon alles aus, als sei es fast fertig, aber diffizile und querschnittliche Themen wie Brandschutz können diesen augenscheinlichen Eindruck mit Leichtigkeit pulverisieren. Genau wie bei Software.
Matthias
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