Digitale Ökosysteme – Nicht zu Beginn gleich falsch abbiegen! Teil 2

29. Mai 2025

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Matthias

Digitale Ökosystem und Plattformen sind nach wie vor vielversprechend und attraktiv. Für die Teilnehmer und vor allem auch für den Betreiber der Plattform. Viele Unternehmen und Organisationen überlegen logischerweise, wie sie ein Digitales Ökosystem etablieren und damit eine starke Position im Markt einnehmen können. Chancen gibt es viele, aber schwierig ist es trotzdem.

Obwohl es viel Literatur gibt, obwohl es zahlreiche Vorbilder erfolgreicher Digitaler Ökosysteme gibt und obwohl es auch schon zahlreiche Erkenntnisse aus gescheiterten Versuchen gibt, läuft oft schon der Start nicht rund.

Oft sind es ähnliche Entscheidungen und Herangehensweisen, die zu Problemen führen. Ich greife in dieser kleinen Artikel-Serie Problembereiche heraus, die mir schon oft begegnet sind. Dazu gibt es Hintergründe und Ursachen und Tipps, wie ihr es gleich richtig machen könnt.

In Teil 1 der Serie war das behandelte Problem „Verloren in den unendlichen Weiten der Möglichkeiten“.

Problem 2: Fokus falsch – zu viel Technik oder zu viel Meta-Ebene

Für Digitale Ökosysteme wird einiges an Technik gebraucht. Klar. Techniker beschäftigen sich natürlich auch gerne mit Technik. Damit nimmt das Unheil gerne seinen Anfang und seinen Lauf. Schließlich ist es möglich, sich jahrelang mit dem Aufbau der technischen Grundlagen zu beschäftigen und alles dafür vorzubereiten, dass bei einsetzendem Erfolg möglichst schnell skaliert werden kann. Was dann nur nie passiert, weil es keinen einsetzenden Erfolg und nichts zu skalieren gibt …

Wer jetzt denkt, dann darf man die ersten Schritte halt nicht die Techniker machen lassen: Auch dadurch ist die Gefahr nicht gebannt. Es droht nämlich direkt ein anderes Risiko: Dass die Idee für das Digitale Ökosystem so genial erscheint, dass man am besten nicht nur ein Digitales Ökosystem errichtet, sondern gleich viele. Zum Beispiel eines in jeder Branche: Und weil das so vielversprechend ist, werden gleich auf der Meta-Ebene alle möglichen Gemeinsamkeiten geplant, die dann später nur noch „instanziiert“ und ausgenutzt werden müssen.

Interessanterweise tritt es sogar nicht selten auf, dass beide Problemfälle in Kombination anzutreffen sind: So kann ein ganzes Projektteam aus technisch orientierten Leuten, geschäftlich orientierten Leuten und manchmal sogar auf rechtliche Aspekte spezialisierten Leuten gemeinsam an einem Digitalen Ökosystem arbeiten. Wegen des fehlenden Fokus bringt aber niemand den Kern des Digitalen Ökosystems voran. Und das bleibt leider nicht selten über Monate oder sogar Jahre unentdeckt.

Symptome und Konsequenzen

Bei mangelndem Fokus eines Digitalen Ökosystems beginnt das Problem fast immer schon mit der Formulierung der Ziele. Es gibt zwar Ziele, aber die sind meist extrem abstrakt. Oft so abstrakt, dass niemand ernsthaft widersprechen kann und sie eigentlich für nahezu jedes System gelten könnten (sicher, interoperabel, skalierbar). Die abgeleiteten Anforderungen sind oft ähnlich schwammig. Damit bietet sich ein riesiger Gestaltungsspielraum für unfokussierte Lösungen.

Dabei entstehen gerne umfangreiche Architekturbeschreibungen. Diese sind logischerweise auch unfokussiert und nicht selten eine wilde Kombination von aktuellen Technologien und Architekturstilen. Bei der generalisierenden Arbeit auf der „Meta-Ebene“ entstehen dann Referenzarchitekturen, die versuchen, die Gemeinsamkeiten von vielen potentiellen Digitalen Ökosystemen zu skizzieren. Leider ohne eines der Digitalen Ökosysteme konkret zu machen.

Damit überhaupt etwas gezeigt werden kann, werden dann beispielhafte, sogenannte „Use Cases“ (hat nichts mit den Use Cases aus der Anforderungsmethodik zu tun) ausgewählt und umgesetzt. Die Use Cases sind meist inhaltlich sehr schmal gewählt, um leicht umsetzbar zu sein und illustrieren nur bruchstückhaft die Intention des Digitalen Ökosystems. Dabei sind sie meist weder tief konzipiert noch besonders repräsentativ. Sie dienen eher als Platzhalter, und es drängt sich der Eindruck auf, dass sie nur als lästiges Übel gebraucht wurden, aber eigentlich bei der Arbeit auf der technischen Ebene oder der Meta-Ebene eher lästig sind.

Digitale Ökosysteme leben davon, dass eine große Zahl der richtigen Partner zusammengebracht werden und sich über eine digitale Plattform austauschen können. Wenn der Fokus fehlt, ist dies natürlich schwierig. Mit den abstrakt formulierten Zielen lässt sich noch eine gewisse Zustimmung gewinnen. Meist lässt sich aber kein Partner direkt auf eine tiefere Partnerschaft ein. Stattdessen gehen die Partner in spe in eine Warteposition in sicherer Entfernung, damit sie bei überraschend einsetzendem Erfolg dabei sein können. Damit überhaupt etwas vorgewiesen werden kann, dürfen die potentiellen Partner sogenannte „Letter-of-Intent“ unterzeichnen, die zwar in der Galerie nett wirken, aber praktisch meistens völlig bedeutungslos sind.

Um die potentiellen Partner zu gewinnen und bei Laune zu halten und aktuelle oder potentielle Geldgeber zu überzeugen, wird oft eine große Marketingshow aufgezogen. Das kann rein unternehmensintern sein oder auch weithin sichtbare Ausmaße annehmen. Mit wenig Fokus ist dann aber auch das Marketing wenig fokussiert. Da aber vielen klar ist, dass die Etablierung eines Digitalen Ökosystems aufwändig ist und Zeit braucht, lässt sich der Schein oft erstaunlich lange aufrechterhalten. Dabei spielt es auch in die Karten, dass Software sowieso wenig greifbar ist und dies gerade für vernetzende Plattform-Software in besonderem Maße gilt.

Wenn in dieser Art der Fokus falsch gesetzt wird, kann viel gearbeitet werden, viel Geld ausgegeben werden und trotzdem rückt das Ziel, ein erfolgreiches Digitales Ökosystem etabliert zu haben, nicht näher.

Es ist aber wichtig zu betonen, dass so gut wie nie absichtlich der Fokus falsch gesetzt wird. Der Fokus ergibt sich häufig durch die beteiligten Leute, deren Hintergründe und Präferenzen. Oft wird zu Beginn gar nicht erkannt, dass die falsche Richtung eingeschlagen ist. Mit der Zeit zeigt sich natürlich, dass es wenig vorangeht. Dann setzt leider gerne der Reflex ein, die Sache besser aussehen zu lassen, als sie wirklich ist. Was oft für eine gewisse Zeit auch gelingt und dann zu noch größerer Enttäuschung führt.

Um diese Probleme frühzeitig zu erkennen und zu verhindern, haben wir im Folgenden einige Tipps zusammengestellt.

Tipps, um nicht von der Spur abzukommen

Technik bewusst nach hinten schieben

Digitale Ökosysteme werden nur durch Technik überhaupt möglich. Und es muss auch wirklich viel in eine gute digitale Plattform investiert werden. Aber nicht zu Beginn. Nicht bevor genau geklärt ist, was überhaupt im Ökosystem passiert, welcher Partner wie exakt interagieren soll.

Deshalb sollte, auch wenn es schwerfallen mag, bewusst die Arbeit an der Technik nach hinten geschoben werden. Nicht schon mal die Basis-Technologien auswählen, nicht schon mal die Referenz-Architektur festlegen, nicht schon mal das Grundgerüst für die Micro-Services aufsetzen. All das führt nur zu Ablenkung und passt am Ende doch nicht richtig. Dann will es aber niemand mehr ändern, weil es ja so teuer war.

Der pure Fokus auf den Kern eines Digitalen Ökosystems öffnet die Augen für das, was wirklich gebraucht wird. Was echten Mehrwert für die Teilnehmer im Ökosystem bietet. Wenn das verstanden ist, ergeben sich viele Aspekte der technischen Umsetzung fast von alleine. Und vor allem reicht für den Start oft bedeutend weniger als angenommen wird, wenn zu sehr auf die Technik fokussiert wird.

Das heißt aber nicht, dass technische Personen am Anfang ausgeschlossen sein sollten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie sollen nur nicht parallel und entkoppelt „schon mal loslegen“. Einerseits können sie wichtige Ideen und Aspekte reinbringen hinsichtlich der technischen Möglichkeiten und Umsetzbarkeit. Außerdem bekommen sie so sehr früh mit, worum es im Kern geht und verinnerlichen das für ihre weitere Arbeit. Sowieso ist es extrem hilfreich, ein Kernteam mit diversen Fähigkeiten zu etablieren, das gut abgestimmt alle Facetten der Gestaltung (geschäftlich, rechtlich, technisch) gemeinsam vorantreibt.

Wenn der Kern der Idee für das Digitale Ökosystem steht und initial konzeptionell ausgestaltet ist, dann kann es mit Vollgas an die technische Umsetzung gehen.

Lieblingsökosystem auswählen und umsetzen

Manchmal besteht die Chance, dass die Idee eines Digitalen Ökosystems so universell erscheint, dass sie in mehreren Branchen als jeweilige, unabhängige Ökosysteme vorstellbar ist. Warum also nicht gleich in vielen Branchen den Erfolg suchen? Grundsätzlich ist es toll, wenn eine Idee so weite Verbreitung finden kann.

Trotzdem sollte nie damit angefangen werden, viel auf der Meta-Ebene zu arbeiten. Stattdessen ein konkretes Digitales Ökosystem auswählen. Dabei können viele Kriterien zum Einsatz kommen. Was der „Liebling“ ist, spielt gar keine so große Rolle. Die Wahl sollte natürlich vor allem dorthin fallen, wo der mögliche Erfolg möglichst groß ist und die Einstiegshürden vielleicht nicht ganz so groß.

Dann kommt es aber nur noch darauf an, das konkret gewählte Digitale Ökosystem möglichst gut zu gestalten und alles an die Etablierung zu setzen. Das ist schon herausfordernd genug und sollte nicht von Diskussionen auf der Meta-Ebene verwässert werden. Die Umsetzung wird dann auch eine ganze Zeit dauern, wie es bei Digitalen Ökosystemen üblich ist.

Gute Ideen generalisieren, aber später

In der konkreten Umsetzung des „Lieblingsökosystems“ ergeben sich viele Erkenntnisse, was funktioniert und was nicht funktioniert. Diese lassen sich auf jeden Fall auch auf andere Branchen und Digitale Ökosysteme übertragen. Bei einer Generalisierung können dann auch viele Dinge übernommen und nur leicht angepasst werden. Möglicherweise sogar Teile der technischen Implementierung. Aber auch hier sollten wieder die Tipps von oben berücksichtigt werden: Erst mal überlegen, was wirklich gewollt ist und dann überlegen, wie es möglichst geschickt technisch umgesetzt werden kann.

In dieser Stufe der Generalisierung können dann auch gemeinsame, übergreifende Artefakte wie eine Referenzarchitektur sinnvoll entstehen. Dann aber mit der notwendigen Tiefe und als wirklich Hilfe, und nicht nur als Vorzeigeartefakt, an das sich doch niemand hält.

Zusätzlich relevant: Tipps aus Teil 1 der Serie

Die Tipps aus Teil 1 der Serie sind bei Problem 2 auch weiterhin relevant und hilfreich:

  • Gutes Design ist harte Arbeit
  • Ökosystem-Service herausarbeiten
  • Harmonisierung als zentrale Aufgabe
  • Balance zwischen Fokus und Vision

Mahnendes Beispiel

Ein öffentlich zugängliches Beispiel für die beschriebenen Problematiken findet man bei GAIA-X und den sogenannten „Data Spaces“ / „Datenräumen“.

Ursprünglich wurde sogar in einer Branche gestartet, in der Produktion / Industrie. Damals hieß die Initiative „Industrial Data Space (IDS)”. Allerdings noch bevor davon etwas wirklich erfolgreich umgesetzt war und auch nur im Ansatz ein Digitales Ökosystem mit darin agierenden Partnern entstanden war, ergab sich die Möglichkeit zur „Expansion“ in andere Branchen. Es gab eine Umbenennung in „International Data Spaces (IDS)“ und die Idee wurde erst mal auf der Meta-Ebene weitergetrieben, und gleichzeitig wurde tief in der Technik an entsprechenden Daten-Konnektoren gewerkelt.

Die grundsätzlichen Ziele für Interoperabilität und Daten-Souveränität als Grundlage einer breiten und leistungsfähigen Datenökonomie sind natürlich sinnvoll und leicht zu vermitteln. Wie allerdings die entstehenden Datenökosystem funktionieren sollen und wie sie so attraktiv und leicht zugänglich gemacht werden können, dass viele Partner tatsächlich mitmachen, daran wurde viel weniger gearbeitet als an den technischen Grundlagen wie Konnektoren für den Datenaustausch.

Mit möglichst vielen Digitalen Ökosystemen in den unterschiedlichsten Branchen wie Gesundheit, Produktion, Automotive oder Landwirtschaft sollte das zugrunde liegende Konzept ausgerollt werden. In allen Branchen wurden Use Cases gesucht, meist sogar viele in einer Branche. Oft blieb es aber bei der Umsetzung der Use Cases, bei denen nur rudimentärer Datenaustausch zwischen einigen wenigen Pilotpartnern stattgefunden hat. Vertiefende Bemühungen wurden dann in ausgewählten Branchen gestartet: z.B. Mobility Data Space (MDS), Catena-X (Automobil Zulieferketten), Manufacturing-X (Produktion).

Mittlerweile ist es schwierig, überhaupt noch den Überblick in den vielen Initiativen zu behalten und nachzuvollziehen, wer welche Ziele verfolgt und wie nah die Lösungen noch an den ursprünglichen Konzepten sind. Außerdem ist es zunehmend schwierig, sich in den Begriffen noch zu orientieren, weil viele Begriffe mit wenig klarer Definition und in häufig leicht unterschiedlicher Bedeutung zum Einsatz kommen. Das gilt selbst für die absoluten Kernbegriffe wie Ökosystem, Data Space oder Plattform, die teils nicht sauber auseinandergehalten und noch viel öfter missverstanden werden.

Die Skalierung auf eine Größenordnung, die die jeweiligen Digitalen Ökosysteme wirklich attraktiv machen würde, ist bisher leider nirgends gelungen. Auch ist nicht abzusehen, wann die initiierten Digitalen Ökosysteme profitabel sein könnten. Dass für die neue und innovative Klasse von Digitalen Ökosystemen, nämlich rund um den Austausch von Daten, öffentliche Förderungen eingesetzt werden ist sinnvoll und zu begrüßen: Trotzdem müssen die ökonomischen Prinzipien von Digitalen Ökosystemen berücksichtigt werden und die Konstruktion muss auf Profitabilität ausgelegt werden. Digitale Ökosysteme funktionieren nur im Großen und bringen nur dort ihre versprochenen Vorteile. Deshalb muss alles darauf ausgerichtet werden, dass sie groß werden und allen Teilnehmern erwünschte Vorteile bringen. Durch immer neue Initiativen, neue Namen und Positionierung auf europäischer Ebene gab es immer „Erfolge“ zu vermelden. Diese bestanden aber leider nie darin, ein erstes Digitales Ökosystem rund um Daten wirklich erfolgreich etabliert und skaliert zu haben. Der Mangel an Fokus konnte bisher noch nicht wieder kompensiert werden.

Bei Digitalen Daten-Ökosystemen gilt aber wie so oft: Es ist noch nicht zu spät, es richtig zu machen! Aber nur, wenn ein konkretes und gut ausgewähltes Ökosystem sauber gestaltet und mit vollem Fokus vorangetrieben wird. Die deutsche und europäische Wirtschaft würde so stark von einem solchen Erfolg profitieren!

Die Serie wird weiter fortgesetzt. Der nächste Teil folgt bald.

Matthias

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