„KI macht uns alle arbeitslos!“, „Maschinen sind bald schlauer als Menschen.“, „Wir müssen nicht mehr programmieren können, nur noch prompten.“, „Software entwickelt sich mit Digitalen Agenten bald selbst.“ Solche oder ähnliche Erwartungshaltungen an Software und digitale Produkte hören wir in letzter Zeit immer wieder. Aber stimmen sie tatsächlich? Die ErwartungshaltFung von Menschen und der Wirtschaft an Software hat sich über die Jahre stark verändert und im zeitlichen Verlauf immer wieder Extreme eingenommen. In diesem Beitrag möchten wir diesen Verlauf genauer betrachten, insbesondere das Spannungsfeld von Erwartungen an und die tatsächlichen Fähigkeiten von Software. Die Erwartungskurve gibt an, was Menschen, die keine Software-Expert:innen sind, glauben, dass Software zum jeweiligen Zeitpunkt leisten können sollte. Die Software-Fähigkeiten-Kurve gibt an, was Software zum jeweils gleichen Zeitpunkt nach ehrlicher Einschätzung von Software-Expert:innen tatsächlich leisten kann.

Mit Schwung in die Softwarekrise
Leider können wir in vielen Bereichen auch in den 2020er Jahren immer noch das Gefühl haben, digitales Neuland zu betreten. Vor allem wenn wir auf die deutsche Wirtschaft schauen. Dabei wird Software schon seit den 1950er Jahren professionell entwickelt. Erste Unternehmen haben dort schon angefangen, analoge Arbeitsschritte oder analoge Technik digital umzusetzen. So wurden beispielsweise komplexe Rechnungen jetzt digital ausgeführt und mussten nicht mehr manuell von Menschen oder mit Hilfe von mechanischen Rechenmaschinen durchgeführt werden. Diese komplexen und dennoch in ihrer Funktionalität deutlich eingeschränkten Maschinen konnten nun deutlich einfacher und zugleich mächtiger in Software umgesetzt, d.h. programmiert werden. Damals war eine Aufbruchstimmung zu verspüren.
Obwohl die Erwartungshaltung an Software damals zwar noch relativ gering war, so war sie aber dennoch deutlich höher als die tatsächlichen Fähigkeiten von Software. Schlimmer war jedoch, dass die Erwartungen an Software mit der Zeit langsam anwuchsen, die Fähigkeiten von Software aber nicht im gleichen Maße mitgewachsen sind. So wurde die Schere zwischen Erwartungen an und Fähigkeiten von Software immer größer in dieser Anfangszeit. Im Rahmen der NATO Software Engineering Conference 1968 in Garmisch wurde daher die Softwarekrise ausgerufen: Die Zunehmende Komplexität der Softwareentwicklung sorgt dafür, dass Software-Projekte das Budget überschreiten, ihren Zeitplan nicht einhalten und die Software viel zu unzuverlässig ist. Das hört sich nicht nur so an, als wären wir immer noch in der Software-Krise, es ist leider auch so.

Vom Mond zum DotCom-Boom
Als Reaktion auf die Softwarekrise wurde beschlossen, dass Software-Projekte von nun an mit Software Engineering genauso ingenieursmäßig angegangen werden sollen, wie andere Großprojekte beispielweise im Gebäude- oder Maschinenbau. Der Begriff Software Engineering wurde jedoch nicht auf der Konferenz in Garmisch geprägt, wie leider oft fälschlich behauptet wird, sondern von Margaret Hamilton. Sie leitete die Entwicklung der On-Board-Flugsoftware für den Apollo Guidance Computer der NASA im Rahmen des Apollo-Programms. Die Mondlandung, die ohne diese Software gar nicht erst möglich gewesen wäre, ist auch für ein erstes Extrem in der Betrachtung der Fähigkeiten von Software . Dieses Ereignis war für die meisten Menschen so groß, dass damit ihre Erwartungshaltung an Technik (und damit auch an Software) bei weitem übertroffen wurde.
Dies hat sich aber schnell wieder normalisiert und in der Wirtschaft waren die Erwartungen an Software leider immer noch viel höher als die tatsächlichen Fähigkeiten. Zwar wurde durch die Maßnahmen im Software Engineering der Abstand jetzt immer mehr verringert, aber die Fähigkeiten blieben weiterhin hinter den Erwartungen zurück.
Erst mit der größeren Akzeptanz des Internets in den späten 1990er Jahren kam es dann zu einem anderen Extrem. Die ersten großen wirtschaftlichen Erfolge führten zu einem regelrechten Boom und damit zum extrem schnellen Anwachsen der Erwartungshaltung an das digitale Business im Internet. Im Internet schien alles möglich zu sein. Es gab keine Grenzen. Leider konnten diese (unbedachten) Erwartungen nicht im Ansatz erfüllt werden, was im Frühjahr 2000 dann auch zum Platzen der DotCom-Blase führte. So schnell wie die Erwartungen gewachsen waren, so schnell fielen sie auch wieder auf ihr ursprüngliches Niveau zurück.

Trendwende und Plattform-Ökonomie
Die Veröffentlichung des Agilen Manifests im Frühjahr 2001 führte zwar zu großflächigen Änderungen des Vorgehensmodells in (Software-) Projekten, aber die oben genannten Kernprobleme der Softwarekrise wurden damit auch nicht gelöst. Die Veröffentlichung des Apple iPods im Jahr 2001 und dem zugehörigen iTunes Music Store im Jahr 2003 führte zur Disruption der nächsten großen Branche, aber auch das hatte keinen großen Einfluss auf die Erwartungshaltung an und die Fähigkeiten von Software. Apple setzte mit dem iTunes Store als Teil ihres Digital Hub Konzepts ebenso auf die Macht der Plattform-Ökonomie wie Amazon mit der Einführung von Amazon Marketplace im Jahre 2000. Die Plattform-Ökonomie ist eines der größten digitalen Geschäftsmodellinnovationen, wenn nicht sogar die größte. Bis heute andauernd wird eine Branche nach der anderen von Digitalen Ökosystemen auf Basis digitaler Plattform umgewälzt. Leider kommen fast alle dieser Systeme aus dem Silicon Valley oder China.
Ungefähr zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des iPhones Ende 2007 ist jedoch etwas Interessantes passiert. Die Fähigkeiten von Software überstiegen auf einmal die an sie gestellten Erwartungen. Das iPhone selbst hat damit zwar rein gar nichts zu tun, aber so kann man sich die Zeit gut merken. Es hängt auch nicht wirklich etwas mit neuem Erkenntnisgewinn oder ganz neuen Konzepten zusammen. Schlicht und einfach ermöglichte es ab diesem Zeitpunkt die stetig verbesserte Hardware, bereits existierende Ideen und Konzepte jetzt endlich umsetzen zu können. Natürlich ist es schön, dass wir nun Dinge umsetzen können, die bisher unerreichbar schienen. Aber leider haben wir jetzt ein ganz anderes Problem. Viele Unternehmen nutzen die neuen Möglichkeiten nicht im Ansatz aus, weil sie sich gar nicht vorstellen können, was sie digital alles erreichen könnten. Viele Unternehmen denken immer noch viel zu analog. Wenn überhaupt, sehen sie den Nutzen von Software nur darin, ihr bisheriges (analoges) Business zu verbessern. Es geht aber eben auch darum, völlig neues Business aufzubauen, das ohne Software gar nicht möglich wäre. Dazu müssen Unternehmen aber lernen, digital zu denken.

Prompte Kursänderung
Die Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 war ein Schock. Im Positiven, wie im Negativen. Für die meisten Menschen kam der Chatbot aus dem Nichts und bot Möglichkeiten, von denen sie vorher noch nicht einmal geträumt hatten. Es fühlte sich zunächst an wie Science Fiction. Gefühlt stand fortan jede Woche ein neues Werkzeug (meist kostenlos) zur Verfügung, das den Umgang mit Texten, Sprachen, Bildern, Videos, Musik oder jeder anderen Art von digitalen Daten revolutionierte. Es dauerte nicht lange, bis die Erwartungen an (zukünftige) Software in die Höhe schnellten. So hoch, bis sie zu den eingangs genannten Aussagen führten, dass wir bald gar nichts mehr (selbst) machen müssen. Alles geht von allein.
Aber ist das wirklich so? Ich bin alt genug, um in den letzten Jahrzehnten schon mindestes zwei große KI-Wellen mitgemacht zu haben. Jedes Mal wurde dort schon gesagt (oder versprochen), dass KI bald alles selbst macht. Ich möchte an dieser Stelle auch gar nicht die Diskussion aufmachen, ob wir momentan wieder (nur) einen Hype erleben, der seinen Versprechungen nicht gerecht wird. Die aktuellen Möglichkeiten, die uns KI bietet, sind wirklich großartig. Und ganz sicher wird KI viele Unternehmensbereiche nachhaltig verändern. Die Fähigkeiten von KI kommen immer näher an ihr Versprechen heran. Aber das Versprechen kann immer noch nicht eingelöst werden. Und falls wir immer nur näher an das Ziel heranrücken, ohne es tatsächlich zu erreichen, dann werden viele der aufgezeigten Zukunftsvisionen nie Realität werden. Wir können auch schon einen leichten Trend der Ernüchterung beobachten. Die Erwartungshaltung sinkt. Momentan noch sehr gering, aber merklich. Wir sollten die tastsächlichen Fähigkeiten objektiv und emotionslos bewerten und so unsere Erwartungshaltung justieren und sinnvolle Entscheidungen treffen.
Ich bin schon sehr gespannt, wie sich dieses Bild in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verändern wird.
Marcus
An dieser Stelle möchte ich mich bei Kim Lauenroth bedanken, der vor vielen Jahren eine erste Version der Zeitstrahl-Abbildung erstellt hat.
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